„Der Schlingel hat die Welt erobert – ganz friedlich, ohne Blutvergießen …“

Literaturwissenschaftler erklärt, warum „Der Struwwelpeter“ bis heute ein Besteller ist

Kein Bilderbuch der Welt weist eine solch internationale Karriere auf wie „Der Struwwelpeter" von Heinrich Hoffmann. In seinen Lebenserinnerung schreibt der Frankfurter Arzt und Autor, dessen 200. Geburtstag in diesem Sommer gefeiert wird: „Der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Welt herumgekommen als ich.“

Prof. Hans-Heino Ewers, Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität, beleuchtet in der soeben erschienenen Ausgabe von „Forschung Frankfurt“, wie die Geschichten dieses Klassikers zu einem populären Mythos geworden sind und welche vielfältigen Interpretationen sie zulassen. Auch Erwachsene werden von diesem einzigartigen Werk angezogen, das inzwischen in über 40 Sprachen und 50 Mundartversionen vorliegt, seine phänomenale Wirkungsgeschichte beschäftigt Medizin- und Literaturhistoriker, Erziehungswissenschaftler und Psychoanalytiker, wie auch die jüngste Ausgabe des Frankfurter Wissenschaftsmagazins zeigt.

Hoffmanns Blick auf Kinder aus seiner ärztlichen Perspektive hebt sich von der Verniedlichung der Kindheit im Biedermeier deutlich ab. Dazu Ewers: „Für Hoffmann waren undisziplinierte, unbeherrschte, triebgesteuerte, kurz: unartige Kinder etwas völlig Normales. Kinder deshalb zu bewundern oder gar zu Revoluzzern zu erklären, lag Hoffmann dabei gänzlich fern; man musste ihnen im Gegenteil beibringen, mit den eigenen impulsiven Regungen, mit ihren Aggressionen, ihrer Leichtsinnigkeit und Unvorsichtigkeit fertig zu werden – und zwar um des eigenen Überlebens willen.“ Ewers ist der Auffassung, dass die Struwwelpeter-Geschichten nicht im eigentlichen Sinn moralisch sind, sie wollen vielmehr höchst elementare Verhaltensmaßregeln bieten und tun dies, indem sie warnen und sehr drastisch abschrecken. Denn – so glaubte Hoffmann – nur so könnten die kindlichen Leser wirklich „frappiert“ werden. Dabei greift er zeitgenössische Veränderungen des Alltagslebens auf, die neue Gefahrenquellen für Kinder bedeuteten. So wurde vermutlich die Paulinchen-Geschichte durch die Schwefelstreichhölzer inspiriert, die ab 1834 in Darmstadt produziert wurden und verheerender Brände verursachten. Doch werden die eher vordergründigen Erziehungsabsichten nicht auch durch die Lust an der dargestellten Ungezogenheit konterkariert und durch die karikaturistische Gestaltung dem Ernst moralischer Belehrung enthoben?

Der Literaturwissenschaftler Ewers sieht in dieser Interpretation des Augsburger Literaturdidaktikers Kaspar Spinner ein der vielfältigen Wirkungspotenziale, die dieser Kinderbuchklassiker hervorruft. Inzwischen gibt es verschiedene politische Struwwelpetriaden, die bekannteste ist die von Friedrich Karl Wächter von 1970. Ewers sieht bereits im Hoffmann'schen Original vielfältige Bezüge auf die politischen Verhältnisse der Entstehungszeit, des Vormärz und der 1848er-Revolution. Ist „Der Struwwelpeter“ womöglich ein verkapptes politisches Traktat in Wort und Bild? Ist der Titelheld etwa als die Karikatur eines radikalen Achtundvierzigers zu lesen, von denen Hoffmann sich ein Stück weit distanzierte? Geht es in der Geschichte vom wilden Jäger, dem Hasen und dem Hasenkind um das Verhältnis von Adel, Bourgeoisie und Proletariat? Mit seinem satirischen „Handbüchlein für Wühler“, 1848 unter dem Pseudonym „Peter Struwwel, Demagog“ veröffentlicht, hat sich Hoffmann selber unter die Verfasser politischer Struwwelpetriaden begeben und damit nachträglich den verborgenen politischen Gehalt des Originals bekräftigt.

Weitere Beiträge in „Frankfurt Frankfurt“ 1/2009, die sich mit Struwwelpeter und seinen Folgen beschäftigen:

  • Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Psychoanalyikterin, Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts: Der Struwwelpeter: Eine Fundgrube unbewusster Wünsche und Ängste von Kindern 
  • Prof. Dr. Helmut Siefert, Medizinhistoriker, Goethe-Universität: Heinrich Hoffmann und das Frankfurter „Irrenschloss“ 
  • Prof. Dr. Frank-Olaf Radtke und Prof. Dr. Micha Brumlik, Interview mit den beiden Erziehungswissenschaftlern, Goethe-Universität: Eltern und Kinder unter permanentem Erwartungsdruck – Warum Ratgeber-Bücher Hochkonjunktur haben

Informationen: Prof. Hans-Heino, Institut für Jugendbuchforschung, Campus Westend, Fon: 069 79832997 oder 79832995, eMail: ewers@em.uni-frankfurt.de

Die Goethe-Universität ist eine forschungsstarke Hochschule in der europäischen Finanzmetropole Frankfurt am Main. 1914 von Frankfurter Bürgern gegründet, ist sie heute eine der zehn größten Universitäten Deutschlands. Am 1. Januar 2008 gewann sie mit der Rückkehr zu ihren historischen Wurzeln als Stiftungsuniversität ein einzigartiges Maß an Eigenständigkeit. Rund um das historische Poelzig-Ensemble im Frankfurter Westend entsteht derzeit für rund 600 Millionen Euro der schönste Campus Deutschlands. Mit über 50 seit 2000 eingeworbenen Stiftungs- und Stiftungsgastprofessuren nimmt die Goethe-Universität den deutschen Spitzenplatz ein. In drei Forschungsrankings des CHE in Folge und in der Exzellenzinitiative zeigte sie sich als eine der forschungsstärksten Hochschulen.

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Dr. Anne Hardy

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