Lernen ist Staunen und Stutzen …

Wider das „Alles-oder-nichts-Prinzip“: Prof. Meyer-Drawe veröffentlicht „Diskurse des Lernens“

Schnell, störungsfrei, output-orientiert – Lernen nach dem Prinzip der Informationsverarbeitung. Wie beim Muskelaufbau sollen nun brain gym und brain jogging auch die Hirnaktivität steigern. Und Lernen findet überhaupt nur statt, wenn es Spaß macht. Prof. Dr. Käte Meyer-Drawe (Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik) schreibt gegen diese Botschaften unserer Tage an: In ihrem aktuellen Buch „Diskurse des Lernens“ geht es um Lernen im Sinne von Erfahrung.

Es beginnt, wo das Vertraute seinen Dienst versagt und das Neue noch nicht zur Verfügung steht. Diese für das Lernen so bedeutsame Spanne zeitraubender Irritation ist auch leidvolle Erfahrung. Denn das Nicht-Gedachte schmerzt, weil wir uns im Gedachten wohlfühlen. Aus philosophisch-phänomenologischer Perspektive unterstreicht die Autorin die Komplexität des Lernens und wendet sich gegen eine Dominanz der Hirnforschung im aktuellen pädagogischen Diskurs.

Die Gunst der Stunde nutzen

Nach heutiger Vorstellung endet Lernen vor allem im überprüfbaren Wissen. Entsprechend wird in Schulen oft nur darauf geachtet, wie es um die in Noten messbaren Leistungen der Schüler/innen steht. Die Politik strebt danach, deutsche Schüler/innen mit besseren Lehrmodellen und Änderungen im Schulsystem dem europäischen Standard anzupassen. Doch Lernen als Erfahrung ist nicht allein Medium kontrollierter Verhaltensänderungen. Erfahrung lässt sich weder an- noch abschalten.

Lernen als Beginn ist wie das Aufwachen am Morgen, jede Thematisierung kommt in Bezug auf das Ereignis selbst zu spät. Daher kann man zwar sagen „ich habe gelernt“, aber nicht „ich beginne zu lernen“ („üben“ ist hier nicht gemeint). In diesem Sinne ist Lernen auch nicht vollständig instruierbar. Lehren antwortet vielmehr auf eine Fülle von Ansprüchen. Viele von ihnen kommen unerwartet. Doch je mehr die Lehrenden über die Kontingenz des Lernens wissen, um so eher werden sie die Gunst der Stunde nutzen können.

Ein Schema greift nicht

Das Schema von Reiz und Reaktion ist verführerisch, doch auch mit modernen Beobachtungstechnologien gelingt es nicht, den Lernvollzug quasi als Augenzeuge zu protokollieren. Er lässt sich weder nachträglich erfahren noch für Forschungszwecke wiederholen. Verhaltensstudium (Behaviorismus) mit Bildern der Signalverarbeitung im Gehirn zu verknüpfen muss hier ins Leere laufen. Nach pädagogischem Verständnis bilden Hirnaktivitäten zwar notwendige Bedingungen des Lernens. Was allerdings wie gelernt wird, können sie nicht klären. Als seltsam empfindet es Prof. Meyer-Drawe daher auch, dass heute kaum noch ein lerntheoretischer Diskurs ohne die Bestätigung der Hirnforschung auszukommen scheint. Umgekehrt spielen erziehungswissenschaftliche Erläuterungen des Lernens in hirnorientierten Ratgebern und Didaktiken keine Rolle.

Zeit für neue Horizonte

„Lernen ist weder nur unkalkulierbares Ereignis noch lediglich messbare Anhäufung von Information“, sagt Meyer-Drawe, und wendet sich damit gegen ein „Alles-oder-nichts-Prinzip“. Für die Praxis des Lernens als Erfahrung stellt sich dennoch die Frage: Wie soll der Lernvorgang, dessen Ablauf sich unserem Wissen entzieht, eröffnet, begleitet, verbessert und schließlich abgeschlossen werden?

„Jedenfalls nicht, indem eine Entwicklung einfach begleitet oder Lernumgebungen bereitgestellt werden“, betont Meyer-Drawe. Wundermittel einer „hirngerechten Didaktik“ nutzten hier die Hilflosigkeit von Lehrenden aus. Es seinen Geschäfte mit der Illusion, etwas im Griff zu haben, was sich grundsätzlich entzieht. Lehrende, die sich die Komplexität ihres Berufs eingestehen, würdigen die fruchtbaren Momente im Unterricht und riskieren Verzögerungen zugunsten einer Erfahrung, die einen neuen Horizont eröffnet.

An Vergessenes anknüpfen

Bereits Sokrates wusste den Zustand des Staunens und Stutzens, der die fließende Zeit durchtrennt, für den Lehr- und Lernprozess zu schätzen. Eine Lernauffassung, die sich über die Jahrhunderte verfolgen lässt und erst mit der empirischen Psychologie vor etwa hundert Jahren und seit knapp dreißig Jahren durch die kognitiven Neurowissenschaften verstärkt ins Abseits geriet. Auch heutige Mischformen von behavioristischen und kognitionstheoretischen Untersuchungsansätzen gehen immer von einer Änderung des Verhaltens als etwas Mess- bzw. Beobachtbarem aus. Nur weil die unsichtbaren inneren (unkalkulierbaren) Prozesse und unvermeidlichen Rückschläge ausgeklammert bleiben, stellt sich Lernen als kumulativer fortschreitender Prozess dar. In dessen Folge reduzierte sich Lernen mehr und mehr auf ein Verhaltensmanagement, um ein möglichst hohes Maß an Effektivität (Ergebnis und Zeit) zu erreichen. Meyer-Drawe steht dieser pädagogischen Konsequenz kritisch gegenüber und knüpft mit ihrem Plädoyer für die Komplexität des Lernens an die „vergessenen“ Lernauffassungen an.

Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens. – Wilhelm Fink Verlag, München, 2008. – 253 Seiten, 29,90 Euro. – ISBN 978-3-7705-4412-7

Weitere Informationen

Prof. Dr. Käte Meyer-Drawe, Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik, Institut für Erziehungswissenschaften, Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum, Fon: 0234 3222741, eMail: kaete.meyer-drawe@rub.de, Web: www.ruhr-uni-bochum.de/allgemeine-paedagogik/

Redaktion: Barbara Kruse

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